Die Sierra Nevada markiert jedes Frühjahr einen Höhepunkt für Wanderer, die sich auf dem Pacific Crest Trail (PCT) von Mexiko aus auf den langen Weg nach Kanada begeben. Der Gebirgszug, von Einheimischen und Wanderern schlicht „die Sierra“ genannt, hat unter PCT-Weitwanderern einen besonderen Stellenwert. Die nahezu unberührte Natur, die sich über mehrere hundert Kilometer erstreckt und drei Nationalparks1 sowie zahlreiche Naturschutzgebiete umfasst, begeistert mit ihrer wilden Schönheit.
Die Sierra stellt hohe Anforderungen an Wanderer. Schneebedeckte Pässe führen bis auf 4.000 Meter Höhe, das Gelände ist anspruchsvoll und weitgehend abgelegen. Über eine Woche lang kann man auf schmalen Fußwegen unterwegs sein, weit abseits von Straßen, Siedlungen oder Mobilfunkverbindung. Die Abwesenheit nahezu aller Merkmale moderner Zivilisation lässt den Eindruck entstehen, als sei man ganz auf sich allein gestellt – nur der schmale Pfad und einige wenige Fußbrücken über breite Flüsse zeugen vom menschlichen Einfluss. Besonders herausfordernd ist die Versorgung. Verpflegung muss für lange Etappen mitgetragen werden. Der PCT verläuft in diesem Abschnitt großteils abseits von Straßen. Wanderer nutzen sogenannte „Sidetrails“, die über hohe Pässe zurück in die Zivilisation führen, ein mühsames und zeitintensives Unterfangen.
Im Winter 2022/23 fiel in der Sierra Nevada so viel Schnee wie seit 40 Jahren nicht mehr, in manchen Regionen wurden sogar neue Rekorde aufgestellt. Die Durchquerung der Sierra im Frühjahr 2023 wurde dadurch zu einer noch größeren Herausforderung. Normalerweise sind zumindest die Täler im Frühling bereits schneefrei, 2023 jedoch lag über einer Wegstrecke von 500 Kilometern eine nahezu durchgehende Schneedecke. Die Orientierung erfolgte hauptsächlich mithilfe von GPS, doch die Wahl des Weges war schwierig und erforderte stetig Anpassungen an das Gelände und die Bedingungen. Die täglichen Distanzen sanken auf etwas mehr als 20 Kilometer. Jeder Schritt durch den tiefen Schnee kostete ein Vielfaches an Kraft und Zeit im Vergleich zu schneefreien Abschnitten2. Auch die logistische Versorgung war erschwert. Viele Straßen und Versorgungsstationen, die normalerweise im Mai öffnen, blieben 2023 bis in den Juli gesperrt. Nahrung musste für mehr als eine Woche mitgeführt werden, und zusammen mit der benötigten zusätzlichen Ausrüstung3 stieg das Rucksackgewicht auf etwa 25 Kilogramm.
Neben der enormen Anstrengung war die Schneelage auch mit erheblichen Gefahren verbunden. Obwohl der Schnee in der Sierra im Frühjahr oft als relativ stabil gilt, musste die Route stets mit Blick auf mögliche Lawinengefahr gewählt werden. Tragische Lawinenunfälle mit tödlichem Ausgang nahe des PCT in den Monaten Juni und Juli4 verdeutlichten die außergewöhnlichen Bedingungen im Frühjahr 2023. Um das Risiko zu minimieren, starten Wanderer früh in der Morgendämmerung, um den während einer kalten Nacht hartgefrorenen Schnee zu nutzen. Mit dem Anstieg der Temperaturen im Tagesverlauf wächst die Gefahr von Nassschneelawinen. Während der Schneeschmelze werden zahlreiche Bäche zu reißenden Flüssen. Manchmal halfen Schneebrücken, umgestürzte Bäume oder seltene Fußgängerbrücken bei der Querung, doch oft blieb nur der gefährliche Weg durch das eiskalte, tosende Wasser.
Angesichts dieser extremen Bedingungen entschieden sich im Frühjahr 2023 die meisten PCT-Wanderer, den Sierra-Abschnitt auszulassen und ihre Reise weiter nördlich fortzusetzen. Die Sierra war noch stiller, noch einsamer als sonst. Den wenigen Wanderern, die sich dennoch auf dieses Abenteuer einließen, bot sich eine außergewöhnliche und tief prägende Erfahrung.
Diese Fotostrecke dokumentiert meine Durchquerung der High Sierra auf dem Pacific Crest Trail – von Mitte Mai bis Ende Juni 2023.
1 Sequoia Nationalpark, Kings Canyon Nationalpark, Yosemite Nationalpark (von Süden nach Norden)
2 Negativrekord waren 17 Kilometer Tagesleistung nach 10 Stunden reiner Marschzeit.
3 Bärenkanister (ist für die Sierra Nevada als Aufbewahrungebehälter für Nahrung vorgeschrieben), Schneeschuhe, Steigeisen oder Spikes, Eispickel, extra warme Kleidung
4 Tödliche Lawinenunfälle im Juni sind extrem selten in Kalifornien. Ein tödlicher Lawinenunfall im Monat Juli wurde in Kalifornien noch nie vor 2023 registriert.
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